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Lieber Glück als Informatik?
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2015
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Zusammenfassung
51,1 Prozent so groß ist die Gefahr für deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, durch die Digitalisierung überflüssig zu werden. Mehr als die Hälfte der Jobs hierzulande ist damit vom technischen Wandel bedroht, wie in einer Studie der London School of Economics auf Basis von amerikanischen Daten für Europa berechnet wurde. Start-up-Firmen zeigen schon heute, dass nicht viele Mitarbeiter notwendig sind, um Millionen von Kunden zu erreichen. So hatte Instagram, eine Foto- und Video-Sharing-App für Mobilgeräte, nur rund ein Dutzend Angestellte, aber über 100 Millionen Nutzer, als Facebook das Unternehmen im September 2012 für 737 Mio. US-Dollar übernahm. Das bedeutet, dass die Zahl der Jobs pro Arbeitsschritt tendenziell zurückgeht und dass vor allem manuelle Tätigkeiten ohne großen kreativen Anteil gefährdet sind. So erwarten die Autoren der britischen Studie, dass der technologische Fortschritt insbesondere im Bereich der mobilen Roboter, der lernenden Maschinen und der künstlichen Intelligenz Jobs mit niedrigen Löhnen und niedrigen Qualifikationsniveaus beeinträchtigen wird. Wahrscheinlich ist aber auch, dass komplett neue Tätigkeitsfelder und Berufsbilder entstehen. Die nächste Generation muss so ausgebildet werden, dass sie mit ihren Fähigkeiten vom technologischen Fortschritt profitieren kann, anstatt von ihm gefährdet zu werden. Einige Länder schreiten dabei schneller voran als andere. Großbritannien zum Beispiel führte im September 2014 als erstes G20Land weltweit verpflichtenden Programmier-Unterricht in staatlichen Grundschulen und Mittelschulen ein. Es gebe dazu keine Alternative, wenn die Googles und Microsofts der Zukunft in Großbritannien gegründet werden sollen, so der ehemalige britische Bildungsminister Michael Gove. Die Kinder würden besser auf die Zukunft vorbereitet, wenn sie die Sprache der Zukunft verstünden. Auch in Deutschland gerät die informatische Bildung wieder in den Fokus der Politikerinnen und Politiker. Auffällig vermieden wird dabei allerdings der Begriff 'Informatikunterricht'. Die Initiative D21 diskutiert, wie 'Coding' neben Lesen, Schreiben und Rechnen eine vierte Kulturtechnik werden kann. Die Bertelsmann-Stiftung spricht in einem aktuellen Brief von 'Digitalbildung'. Aus Sicht der Bundeskanzlerin sollte in deutschen Schulen mehr über die Herausforderungen des Computerzeitalters gesprochen werden. Die digitale Welt halte immer mehr in unser normales Leben Einzug, so Angela Merkel in einem Video-Podcast im September 2014. Deshalb sei die Vermittlung von Kenntnissen über Computer notwendig, 'gegebenenfalls auch über Programmiersprachen, über die Nutzung digitaler Medien, aber auch die Nutzung der eigenen Persönlichkeitsrechte was gebe ich preis, wie ist das mit den dauerhaften Verfügbarkeiten von Informationen?' Auch Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel drängt beim Thema 'Digitales' auf einen gesellschaftlichen Mentalitätswandel. So fordert er, Programmiersprachen in den Stundenplan an Schulen zu integrieren. Gabriel: 'Programmiersprachen gehören zu den Sprachen des 21. Jahrhunderts. [...] Für mich wäre eine der Möglichkeiten, Programmiersprachen als zweite Fremdsprache in Schulen anzubieten.' Der Wirtschaftsminister fürchtet, deutsche Unternehmen könnten gegenüber dem schnellen digitalen Wandel in den USA ins Hintertreffen geraten. Sehr konkret wurde im November 2014 der Branchenverband der IT-Industrie BITKOM; er fordert zum wiederholten Mal ausdrücklich das Pflichtfach Informatik. Gefordert sind die Bundesländer, sich deutlich mehr für die informatische Bildung zu engagieren. Geradezu grotesk wirkt vor diesem Hintergrund die aktuelle Entscheidung der Hamburger Schulbehörde, kein Pflichtfach Informatik einzuführen: 'Von der erstmaligen Einführung eines eigenständigen Pflichtfaches Informatik wird abgesehen, da die dafür benötigen Unterrichtsstunden dann anderen Fächern entzogen werden müssten', so der Hamburger Senat. Dafür gibt es nun das Schulfach 'Glück', das in den Hamburger Bildungsplänen von 2011 verbindlich verankert wurde. Doch nicht nur auf künftige Berufsbilder, sondern auch auf das Lehren und Lernen selbst hat die Digitalisierung Einfluss. Technologie verändert traditionelle Machtstrukturen des Lernens, zum Beispiel die Trennung zwischen Lehrenden und Lernenden oder zwischen Arbeit und Lernen. Eine Kernfrage der aktuellen Debatte lautet: Wird eine größere Auswahl an Lernmöglichkeiten tatsächlich die positiven Ergebnisse erzielen, die sich viele renommierte Lernforscher davon versprechen? Was geschieht mit Pädagoginnen und Pädagogen aus Universität, Schule und darüber hinaus? Sie waren jahrhundertelang Leuchttürme der Bildung und finden sich nun in einer Welt wieder, in der jeder zu jeder Zeit ein Lernender ist und Wissen in alle Richtungen fließt. Wer hält künftig die Zügel in der Hand die Lehrenden oder die Lernenden? Wie gehen die Beteiligten mit diesen Einflussmöglichkeiten um? Diese Veränderungen könnten Lehrkräften Angst machen. Denn mit der Technologie, die die Schülerinnen und Schüler in ihrem Alltag nutzen, verändern sich auch deren Lernbedürfnisse. Die Bundesregierung will im Rahmen der Digitalen Agenda 20142017 eine Strategie 'Digitales Lernen' entwickeln. Was genau diese Strategie beinhalten wird, ist bisher nicht erkennbar. Hoffen wir, dass die Einsichten der Bildungspolitikerinnen und -politiker nicht zu spät kommen. Im vorliegenden Heft werden einige dieser Fragen der 'digitalen Gesellschaft' diskutiert. Jürgen Müller Bernhard Koerber